Sare und Yukie Nagai
Bericht von Jürgen Reuss
Eigentlich sollte das Wandbild der Freiburger Streetart-Künstlerin Barbara „Sare“ Gräwe in der Nähe vom Hauptbahnhof entstehen. Damit, dass es wegen einer fehlenden Genehmigung vom Denkmalsamt stattdessen nun sehr prominent an der Ecke Merzhauser Straße/Wippertstraße gegenüber der Kreuzung mit der Wiesentalstraße zu sehen ist, kann Sare sehr gut leben: „Ich bin sogar froh, dass ich hier gemalt habe. Hier ist das Bild viel näher am Geschehen. Ich habe schon während des Malens gemerkt, dass dauernd gehupt wurde, weil die Leute, wenn die Ampel rot war, neugierig rüber geschaut haben und gar nicht gemerkt haben, dass schon wieder grün war.“
Das ist die Aufmerksamkeit, die sich die Tandems aus Wissenschaft und Streetart für ihre gemeinsame Stadtwandforschung erhoffen. Sares Partnerin war die japanischen Informatikerin Yukie Nagai, mit der sie sich vor der Motivfindung per Skype und auch bei einem Treffen bei den Partnern vom Kulturaggregat rege über Künstliche Intelligenz ausgetauscht hat. Das daraus entstanden Motiv überrascht auf den ersten Blick. Von Computertechnik, Robotern oder ähnlichem ist da nichts zu sehen. „Stimmt, ich wollte nichts zu Offensichtliches, Plakatives“, sagt Sare und erzählt, dass sie vor allem eine Szene nicht mehr losgelassen hat. Yukie Nagai hatte ihr nämlich geschildert, wie ihr Assistent es anstellt, einem Roboter Emotionen beizubringen. „Das ist wie bei einem Kind, dass ganz aufmerksam zu verstehen versucht, was die Gesten der Eltern oder die Bewegung ihrer Augenbrauen wohl zu bedeuten haben“, sagt Sare. „Deswegen habe ich zwei Gesichter gemalt, in denen die Emotionen am besten sichtbar sind.“
Für beide Gesichter standen antike Statuen Pate. Und auch die beiden gewundenen Formen links und rechts, die absichtlich an Gehirne erinnern, sind Referenzen an die Antike, rechts an eine gedoppelte Kupferstatue, links an eine Venusfigur. „Ich arbeite meist mit Abbildern von Menschen als Vorlage für meine Collagen, wo die Bezüge nicht so offensichtlich sind.“ Tatsächlich erinnert Sares Mural nun in interessanter Weise an die Geschichte von Pygmalion, der als gewissermaßen antiker Robotiker einer Elfenbeinstatue Leben einhauchte.
Gehalten wird die obere Bildkomposition von Händen, die Teil eines Baums aus Körperfragmenten sind und unten zu einem Stamm zusammenwachsen. „Ich wollte ein organisches Bild dafür finden, wie Mensch und Technik sich verbinden und wie ein neues Bewusstsein wächst oder sich einpflanzen lässt“, erläutert Sare. Gerade dieses organische Ineinandergreifen von Körperteilen und Gehirn hat Nagai gefallen: „Denn wir brauchen beides, um unsere Intelligenz zu entwickeln.” Und noch etwas dürfte Nagai gefallen haben: Die Anmutung von Wärme einer angstfreien Begegnung, die das Bild ausstrahlt. In Japan sind Roboter viel positiver besetzt als in Europa oder den USA. Schon in den Mangas sind sie Helfer auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Die Tragfähigkeit so einer Vision auszuloten und sie sowohl kritisch als auch kreativ zu begleiten, ist ein Ansatz, den die KI-Forscher*innen der Universität Freiburg nicht zuletzt auch mit Projekten wie der Stadtwandforschung verfolgen.
Sare
Barbara Gräwe ist 26 Jahre alt und sprüht seit 2014 unter dem Pseydonym Sare Graffiti bzw. malt Murals. Sie studiert freie Kunst mit Schwerpunkt Malerei an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. In den letzten Jahren hat sie in verschiedenen Städten große Murals gemalt, unter anderem in Augsburg, Kempten, Frankfurt und Offenbach. Freiburg ist ihre Heimatstadt, sie ist hier geboren und aufgewachsen und fühlt sich der Stadt sehr verbunden. „Stadtwandforschung“ ist für sie daher nicht zuletzt eine Möglichkeit, ihre Herkunftsstadt auf künstlerischem Wege neu zu erleben. Neben dem zuhause-Gefühl interessiert sie das Thema der künstlichen Intelligenz besonders im Hinblick auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Was macht den Menschen abseits von Rationalität und Logik aus? In diesem Spannungsfeld aus Rationalem und Zufälligem, nicht Vorhersehbarem steht für Gräwe auch und gerade die Kunst.
Yukie Nagai
Dr. Yukie Nagai studierte Ingenieurswissenschaften in Tokio und schrieb ihre Doktorarbeit an der Osaka University im Robotik-Labor von Hiroshi Ishiguro die sie 2004 abschloss. Hier begann ihre Forschung zur Entwicklungspsychologie und der Anwendung in der Robotik. Nachdem sie in Tokyo und Osaka forschte, folgten zwischen in 2006 und 2009 ein Aufenthalt an der Universität Bielefeld. 2009 erhielt sie eine Professur in Osaka und besuchte weiterhin als Visiting researcher die Universität Bielefeld. Seit 2019 ist sie Projektleiterin und Professorin am International Research Center for Neurointelligence der Universität Tokio. Nagai untersucht mit Hilfe von Computermodellen die neuronalen Mechanismen, welche für die sozio-kognitive Entwicklung verantwortlich sind. Sie entwirft Systeme auf der Basis von neuronalen Netzen, mit denen Roboter kognitive Funktionen wie Selbst-Fremd-Kognition, das Entziffern von Intentionen und Emotionen anderer und sogar Altruismus erwerben sollen. Sie bezieht sich dabei auf ihre Theorie des prädiktiven Lernens.